Umgang mit der Angst in der Psychoonkologie
dieses Thema weckte zunächst meine Neugierde, ließ mich dann jedoch immer mehr zögern. Was
kann man einem Fachpublikum bei einem psychoonkologischen Symposion darüber berichten?
Zögernd und zaudernd schlich ich um das Thema herum, bis mir auffiel, dass genau das irgendwie
auch zum Thema Angst gehört. Wie also damit umgehen?
Als Psychotherapeutin, die mit dem Werkzeug der Sprache arbeitet, habe ich gelernt auf Sprachbilder
zu achten, da sie Hinweise auf Wahrnehmungs- und Denkstrukturen geben, die unsere Sicht der Welt
und unsere Handlungsmöglichkeiten strukturieren. ‚Umgang‘ ist ein sehr vielgestaltiges Sprachbild,
das von ‚Verbindung‘, über ‚Kontakt‘, ‚Berührung‘ ‚Behandlung‘, ‚Feingefühl‘ bis zu ‚Erledigung‘
‚schlechter Umgang‘, ‚und ‚Umgehen‘ viele Aspekte umfasst.
Bei meinen Überlegungen wurde mit dann deutlich, dass ich es fast nur mit Substantiven zu tun bekam
d. h. mit Dingwörtern, die Substanz vortäuschen, wo wir es doch mit flottierenden Gefühlen zu tun
haben. Dinge scheinen uns eben oft mehr Halt zu geben, als Gefühle. Und Halt müssen wir immer
wieder finden in der Psychoonkologie. Immer wieder haben wir es mit angstaufgeladenen und
angstüberbordenden Situationen zu tun, die uns ‚Profis‘ herausfordern, damit umzugehen.
Wie kann ich z. B. in Verbindung bleiben, wo ich am liebsten weglaufen möchte? Wie kann ich mein
Feingefühl bewahren, wenn ich mich als ‚Fels in der Brandung der Angst‘ gefordert fühle oder wie
kann ich auch in der Berührung mit Todesängsten lebendig bleiben? Wie kann ich mit meinen eigenen
Ängsten umgehen?
Im Sprachbild des Umgangs scheint bereits vieles enthalten, was man zu Umgang mit der Angst sagen
könnte. Wie kann ich inmitten schillernder angstvoller Emotionen lebendig, handlungsfähig, feinfühlig
und berührbar bleiben.
Angst ist bei näherem Hinfühlen außerordentlich unterschiedlich gefärbt wie z. B. Bestürzung, Sorge,
Entsetzen, Todesangst, Überlebensangst, um nur einige Facetten zu nennen. Eine schillernde Vielfalt
der Angst, so unterschiedlich gefärbt, wie ein Chamäleon, das je nach Umgebung je nach Kontext
seine Farbe wechselt
Wie kann ich mit diesem Chamäleon umgehen?
So möchte ich sie zu einer assoziativen Annäherung an das Chamäleon Angst einladen um vor diesem
Hintergrund der Frage nach den Umgangsmöglichkeiten genauer nachzugehen.
So ein Chamäleon zu finden ist gar nicht so leicht – die passen sich nämlich gut an die Umgebung an.
Chamäleons kommunizieren mit dieser faszinierenden Fähigkeit, je nach Befinden die Farbe und auch
die Farbmuster ihrer Haut zu wechseln. Bei Stress werden sie schwarz und bei Lust können sie
wunderbar grün türkis leuchten.
So wie die äußeren Farben des Chamäleons dient Angst, wie Gefühle insgesamt, der Kommunikation.
Denn Gefühle sind dazu da, uns einerseits innerlich Informationen über unseren Zustand in der Welt
zu geben und andererseits unseren Zustand nach außen zu kommunizieren. Gefühle dienen also
grundsätzlich der Kommunikation mit mir selbst, im inneren Erleben, sowie der Kommunikation mit
Anderen, im sozialen Erleben.
Zunächst ist Angst also einfach ein ganz normales Gefühl, genauso wie Freude, Liebe, Ärger, Wut
oder Traurigkeit. Angst dient dem Überleben. Angst ist ein äußerst sinnvolles inneres Warnsignal, das
sich immer einschaltet, wenn Ereignisse und Situationen als bedrohlich, ungewiss oder
unkontrollierbar eingeschätzt werden.
Mit begrenzten, absehbaren Bedrohungen können wir ja meist gerade noch ‚umgehen‘. Eine
bedrohliche und unkontrollierbare Situation, deren Ende nicht absehbar ist wie z. B. eine
Krebserkrankung, weckt ungleich mehr Angst.

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Vollends problematisch wird der Umgang mit Angst allerdings, wenn ich einbeziehe, dass unsere
Existenz sowieso grundsätzlich unkontrollierbar und ungewiss ist: Als Menschen sind wir Bestandteil
der Natur, eingebunden in natürliches Werden und Vergehen. Gleichzeitig sind wir Lebewesen, die ein
Bewusstsein von sich selbst haben; wir haben einen Namen und eine Lebensgeschichte als
Individuum. Wir sind kreative Geschöpfe mit einem Verstand, der Berge versetzen kann und einem
Leib der gleichzeitig hinfällige Materie ist.
Wir sind sozusagen ein Produkt mit Verfallsgewissheit, wobei der Verfall sicher, die Verfallszeit
jedoch unbekannt ist. Ich zitiere Martin Bühring: „Der Mensch ist zur selben Zeit außerhalb der Natur,
wie hoffnungslos in ihr gefangen. Sein Leib ist eine aus Materie bestehende fleischliche Hülle, die ihm
auf mannigfaltige Weise fremd ist, die wehtut, altert und stirbt.“ Zitat Ende
1.
Für dieses existentielle Dilemma gibt es keine Lösung, wir müssen uns damit abfinden und damit
unseren Lebensweg gestalten. Dieses Paradox und die damit einhergehende Angst ist ein für die
menschliche Psyche grundlegendes Phänomen.
Wir können immer nur mehr oder weniger angstfrei sein, eine völlige Angstfreiheit ist ein
unrealistisches und geradezu lebensgefährliches Ziel.
Vor diesem Hintergrund stellt sich neben der Frage, „Wann ist Angst pathologisch?“ ebenso die Frage,
„Wann ist die Abwesenheit von Angst pathologisch?“
Mir erscheint jedenfalls die Abwesenheit von Angst im Umgang mit Klimawandel, Kernenergie, oder
Digitalisierung entschieden pathologischer, als viele Ängste, die ich bei Patienten erlebe.
An dieser Stelle meiner Vorbereitung bekam ich langsam Angst, das Thema ‚Umgang mit der Angst‘
zu verfehlen. So ist es mit der Angst, man verliert rasch den Überblick und sieht den Wald vor lauter
Bäumen nicht.
Wozu führt Angst: Angst bewirkt eine Alarmreaktion des Körpers und bereitet ihn auf Kampf, Flucht
oder Stillhalten vor. Das ist die biologische Seite der Angst, die körperliche Angstreaktion. Angst wird
jedoch auch innerlich, symbolisch verarbeitet im Angsterleben und führt zu psychischen Reaktionen
darauf.
Angsterleben und Angstreaktionen haben viele Farben, wie ein Chamäleon. Die Existenz von Ängsten
ist weitgehend unabhängig von Kultur und Zeitalter, was sich ändert sind allerdings die Angstobjekte
und die Angstreaktionen. Waren es in Frühzeiten Naturgewalten, die den Menschen Angst machten,
sind es heute Unwetter, Ernährung oder Fremde, die Angst auslösen. Es gibt praktisch nichts, wovor
man nicht Angst entwickeln kann - ein Chamäleon eben. Erstaunlicherweise gibt es, wie schon gesagt,
vieles, das objektiv gefährlich oder lebensbedrohlich ist, was uns erstaunlich angstfrei damit umgehen
lässt. Unsere Urängste - Spinnen, Schlangen, Höhen, enge Räume - haben kaum etwas gemeinsam mit
heutigen Gefahren: industriell hergestellte Nahrung, Zigaretten, Autos, Alkohol.
Angstreaktionen sind nicht nur biologisch geprägt, sondern auch kulturell und sozial geformt. Frauen
dürfen mehr Angst haben, wenn Männer Angst zeigen, z. B. zittern, sind sie schwach. Auch
Berufsgruppen sind im Hinblick auf Ängste sehr unterschiedlich sozialisiert: psychosozial Tätige
dürfen z. B. deutlich mehr Angst haben und äußern als medizinisch Tätige.
Die Symptome der Angst sind ebenfalls zeithistorisch und kulturell geprägt: gegen Ende des 19.
Jahrhunderts fielen die Frauen in Ohnmacht oder im 1. Weltkrieg entwickelten Männer Zitteranfälle.
Aktuell – und da sind sie hier mit der Themenwahl sehr aktuell – gibt es sogar eine Ausstellung zum
Thema ‚German Angst‘ in Bonn. Deutsche haben möglicherweise anders Angst als andere Nationen.
1 s. Bühring, Martin (2008) Existentielle Aspekte der Psychologie; in Wollschläger, M (Hrsg.).
Hirn – Herz – Seele – Schmerz (2008) dgvt Verlag, Tübingen, S. 226

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Was wird man wohl in 100 Jahren als Angstsymptome unserer Zeit beschreiben?? Jugend- und
Fitnesswahn? Oder zeigen sich die Angstsymptome unserer Zeit im massenhaften Konsum von
Alkohol, Psychopharmaka und Drogen.
Reaktionen auf Angst, d. h. der gewöhnliche ‚Umgang mit der Angst’ sind vielseitig und begleiten oft
unerkannt unseren Alltag, was ich mit einer kurzen Aufzählung solcher Umgangsweisen verdeutlichen
möchte:
den Gurt im Auto anlegen
eine Lebensversicherung abschließen
Sport treiben
Smartphone immer im Blick
gesunde Ernährung
beim Radfahren einen Helm aufsetzen
Niederländer lachen z. B. über unsere Angsthelme. Erstaunlicherweise ist die Zahl
tödlicher Fahrradunfälle in Holland um ca. 50 % niedriger ist als in D. German Angst??
Mit dieser sehr unvollständigen Liste wird offensichtlich, wie Angstreaktionen unser Leben
durchziehen. Bei diesen Angstreaktionen geht es irgendwie immer um Sicherheit, sie sind jedoch
selten mit direktem Angsterleben verknüpft. Oft würden wir zunächst sogar bestreiten, dass sie mit
Angst etwas zu tun haben.
Ich zitiere Allen Watts: „In dem Bestreben, das Leben in allen seinen Aspekten überschaubar,
kontrollierbar und vorhersehbar zu machen, hat der moderne Mensch sich in seinem eigenen Netz
verfangen. In einer rundum versicherten und technisierten Welt findet er sich abgeschnitten von den
Erfahrungen, die dem Leben Sinn und Farbigkeit verleihen.“
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Ein Fallbeispiel:
Bei der genaueren Untersuchung ihrer Angst fiel einer Patientin auf, dass sie dann NICHT mit der
Angst beschäftigt ist, wenn sie malt oder wenn sie wandert. Bei näherer Betrachtung wurde deutlich:
die leiblich sinnliche Wahrnehmung steht in diesen Momenten im Vordergrund. Sie erlebt diese Zeiten
im wahrsten Sinne des Wortes als Sinn-voll.
Wie ein Chamäleon ist Angst meist unsichtbar, solange es in der Umgebung nicht auffällt. Solange ich
mit meinen Reaktionen das Erleben von Angst vermeiden kann, scheint sie abwesend zu sein. Angst
wird erst dann zum Problem, wenn die alltäglichen Muster der Angstvermeidung so weit versagen,
dass Angstgefühle ins Erleben drängen, wie im Fall einer lebensbedrohlichen Erkrankung.
Wir reagieren vor allem dann mit Angst, wenn ein Verlust droht oder eingetreten ist - wir fürchten uns
davor, etwas zu verlieren, das uns in dieser unkontrollierbaren Welt Sicherheit gibt.
Was gibt uns Sicherheit?
Für die Untersuchung dieser Frage möchte ich auf das Modell der 5 Säulen der Identität von Hilarion
Petzold
3 zurückgreifen. Das Sprachbild der Säulen, auf denen die Identität ruht und sich gründet, weist
deutlich auf den Sicherheitsaspekt hin.
2
Watts, Alan W. (2009), Weisheit des ungesicherten Lebens Fischer (Tb.), Frankfurt, 2. Auflage
3
Petzold, Hilarion (1993, erweitert 2003): Integrative Therapie, 3 Bände. Verlag Junfermann, Paderborn
4
Unsere Identität bzw. unsere Sicherheit stützt sich auf folgende Säulen:
1. Leib / Leiblichkeit (Gesundheit, Krankheit, Stress)
2. soziales Netzwerk / soziale Bezüge (Partner, Freunde, Kollegen, Haustiere)
3. Arbeit und Leistung (Beruf, Leistungsfähigkeit)
4. materielle Sicherheit (Wohnung, Einkommen, Geld)
5. Werte (Religion, Spiritualität, Ethik, Moral)
Mindestens die ersten 4 Säulen werden durch eine Krebserkrankung gefährdet. Auch die 5. Säule kann
bedroht sein, wenn jemand z. B. davon ausging, dass die Welt ein guter und gerechter Ort ist, in dem
jeder bekommt, was er verdient. Kein Wunder also, dass Angst ein wesentliches Thema in der
Psychoonkologie ist.
Ein Gespräch über diese Säulen erlebe ich zum Beispiel oft als einen hilfreichen Umgang mit Angst.
Denn 1. ermutigt das Gespräch, sich der Angst zuzuwenden und genauer hinzusehen, was die Angst
auslöst und worauf sie hinweist - und
2. hat das häufig den Effekt, dass Ängste verstehbarer und erklärbarer werden und damit zwar noch
vorhanden gleichwohl weniger beunruhigend sind.
Dieses Bild kann auch dazu beitragen, dass der „diffuse Angstnebel“, wie eine Patientin das
bezeichnete, sich lichtet und Angst sich differenzieren kann in ‚Furcht vor’, ‚Verlust von’, oder
‚Trauer über’. Das erfordert vom Gegenüber allerdings ein gewisses Maß an Angstfreiheit, um
ausführlich nachfragen zu können: Was genau befürchten Sie?
Wenn ich Patienten andererseits frage, was ihnen gut tue, was ihnen helfen würde, wenn sie Angst
haben, dann bekomme ich in der Regel die Methoden der Angstabwehr, der Angstvermeidung
aufgezählt. Meist bezieht sich die Antwort auf die Möglichkeiten, wie sie GEGEN die Angst vorgehen
können.
Hier lauert eine „Gesundheitsfalle“, wie Klaus Dörner
4 sie bezeichnete. Diese Gesundheitsfalle ist
durch einige Denkfehler gekennzeichnet, nämlich
zu glauben, dass die Krankheitsbekämpfung selbst uns gesund machen würde, weiter
zu negieren, dass wir dauerhaft in Auseinandersetzungen mit irgendwelchen Erkrankungen und
Behinderungen sind und damit leben lernen müssen und auch
zu glauben, dass die Medizin uns unsere Gesundheit wiedergeben könne.
Umgangsformen und Methoden GEGEN die Angst, die Patienten oft von uns erhoffen, können Gefahr
laufen, in diese Gesundheitsfalle zu tappen.
So ist ein wesentlicher Umgang mit Angst eine ent–täuschende Information: Es gibt keine
Möglichkeit, angstfrei zu sein oder zu werden.
Da können wir viel lernen von den Schmerztherapeuten – auch Schmerz gehört zum Leben und es gibt
keine Therapie GEGEN den Schmerz, sondern es geht immer um die individuellen
Umgangsmöglichkeiten mit Schmerzen. Schmerztherapeuten ermutigen, sich dem Schmerz
zuzuwenden, um Umgangsmöglichkeiten damit zu finden.
So brauchen auch krebserkrankte Menschen Ermutigung, sich der Angst zuzuwenden, sie kennen zu
lernen um damit umgehen lernen zu können.
4 Dörner, Klaus (2003) Die Gesundheitsfalle. Woran unsere Medizin krankt. Zwölf Thesen zu ihrer Heilung.
Econ, München

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Dazu gehört auf Seiten von uns als Behandler*innen und Berater unverzichtbar die Bereitschaft, diesen
Prozess zu begleiten, sonst wird es zynisch. „Es war gut, dass das Schlimme bei Ihnen schlimm sein
durfte.“ So sagte eine Patientin, bei der ich oft das Gefühl gehabt hatte, wenig Hilfreiches zur
Verfügung stellen zu können. Sie hatte ein totes Kind gebären müssen, wünschte sich so sehr eine neue
Schwangerschaft und hatte so große Angst vor einem weiteren Verlust.
Berücksichtigt man weiterhin, dass die Angst vor Bindungsverlust zu unseren größten Ängsten
5
gehört, dann ist die Bereitschaft zum gemeinsamen Hinschauen wahrscheinlich eine der wesentlichen
indirekten Umgangsmöglichkeiten bei Angst im Sinne von Berühren.
Dieser Aspekt des Berührens ist für mich von zentraler Bedeutung für den Umgang mit Angst. Sich
mit und für die Angst zu verbünden, d. h. mit jemandem zusammen herauszufinden, wann es gut ist,
hinzuschauen und meine Angst kennen zu lernen und wann es hilfreich ist, wegzuschauen und zu
verdrängen und was jeweils dabei hilft. Berühren bedeutet auch, gemeinsam zu untersuchen, wie
jemand zwischen diesen Polen seine Mitte verlieren und immer wieder finden kann, wie Betroffene
und Angehörige einzeln und miteinander diese Balance zwischen Lebensangst und Lebensmut immer
wieder herstellen können.
Und diesen Aspekt es Umgangs mit Emotionen haben sie ja auch für ihren Flyer gewählt – das
Karussell des Lebens mit dem manchmal schwindelerregenden Auf und Ab zwischen Angst und
Weitblick.
Zum Abschluss möchte ich mein Verständnis vom Umgang mit Angst an drei Beispielen
verdeutlichen:
1. Beispiel: Lebensangst und Lebenslust
„Ich bekomme so Lebensangst“ sagte eine Patientin, die nach vielen Jahren der Lebensmüdigkeit
angesichts einer Krebserkrankung merkt, wie sie am Leben hängt und wie sehr sie bisher angstvoll
„das Leben vermieden hat“. Ihre Sicherheit lag bisher in der Vermeidung, jetzt drängt der Lebenswille
und gefährdet diese Sicherheit. Die Angst
um ihr Leben war in ihrer Entwicklung ein wichtiger Impuls
für ihre Lebenslust. So chamäleonartig kommuniziert die Angst.
2. Beispiel: Angst im Mantel der Depression
Eine Patientin kommt mit massiver Belastungssymptomatik nachdem 3 Monate zuvor Wasser in der
Lunge festgestellt worden war. Es wurden Metastasen im Zwerchfell gefunden, die Erkrankung ist
fortgeschritten jedoch ist kein Primärtumor diagnostizierbar. Behandelt werden kann nur die
Symptomatik. Sie wird bis an ihr Lebensende chemotherapeutisch behandelt werden müssen.
Die Patientin war 1930 geboren und machte einen sehr tapferen Eindruck, Im Hintergrund waren
traumatische Kriegserlebnisse als 14jährige. Später war sie aus der DDR geflohen und hatte sich
alleinerziehend mit 2 Kindern im Westen eine Existenz aufgebaut.
Meine Hypothese war, dass diese Situation einer unauffindbaren und damit nicht heilend
behandelbaren Krebserkrankung massiv Ängste weckte, die Auslöser der Belastungsreaktion waren
und zu besprechen seien. Meine Hypothese war weiter, dass dies im Zusammenhang mit
kriegsbedingter Angstüberflutung und Lebensbelastungen zu verstehen sei.
Damit konnte ich jedoch überhaupt nicht landen. Über das Thema Angst war nicht zu sprechen. Die
Patientin erklärte mir, dass sie keine Angst habe und mit der Krebserkrankung gut umgehen könne,
wenn nur ihre „Depression“ nicht wäre. Ihr Behandlungsauftrag war eindeutig – Bearbeitung der
Depression, Ängste habe sie nicht. Sie kam regelmäßig, erlebte eine narrative Annäherung an ihre
Lebensgeschichte entlastend, erzählte vieles zum ersten Mal und war erstaunt über die Erleichterung
die sie dabei erlebte. Auch die Depressivität erlebte sie nicht mehr so belastend. Nur in Gesprächen
gemeinsam mit ihrer Tochter war es möglich über Ängste, nämlich die der Tochter zu sprechen. Die
Tochter befand sich, wie die Patientin berichtete, wegen eigener Angstsymptome ebenfalls in
psychotherapeutischer Behandlung und war sehr erleichtert im gemeinsamen Gespräch mit der Mutter
in meiner Praxis endlich über ihre Ängste sprechen zu dürfen. Über diese Gespräche konnte sich die
5 Grossmann, K. & Grossmann, K. E. (2006) Bindungen - das Gefüge psychischer Sicherheit. Klett-Cotta, 4. Aufl.
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gefühlsmäßige Verbindung mit ihrer Mutter vertiefen, was zum Erstaunen der Patientin ihre depressive
Stimmung weiter linderte.
3. Beispiel: Angst vor dem sozialen Tod vor dem Sterben
Im Gespräch mit einer brustkrebserkrankten Patientin, die ‚austherapiert‘ palliativ behandelt wird,
erwähnt sie in einem Nebensatz, dass sie schlecht schlafe in den letzten Tagen. Auf Nachfrage wird
Angst Thema. Sie habe so Angst vor dem Sterben. Schließlich schält sich heraus, dass sie große Angst
hat, wegen ihrer zunehmenden Schwäche in ihrem Reihenhaus ‚ins Schlafzimmer abgeschoben zu
sein, wenn ich die Treppe nicht mehr heraufkomme‘. Auf meinen Einwand, dass es auch möglich sei,
ein Pflegebett ins Wohnzimmer zu stellen, bemerkt sie knapp: „das wird meine Partnerin niemals
zulassen, die flüchtet ja schon, wenn die palliative Behandlung nur Thema wird.“ Auf mein Angebot,
die Partnerin zum gemeinsamen Gespräch einzuladen, reagiert sie gleichwohl erleichtert und skeptisch.
Die Partnerin nimmt die Einladung an. Im gemeinsamen Gespräch wird deutlich, dass beide Angst vor
dem Schmerz und der Trauer haben, die mit so einem Gespräch verbunden sein können. Auch wird
deutlich, dass sie Angst haben vor der jetzt schon spürbaren Trennung, denn die Ängste, die sie
bewegen sind sehr unterschiedlich.
Die Patientin hat Angst vor einer sozialen Ausgrenzung in der letzten Zeit, ihre Partnerin hat Angst vor
der Zeit danach. Einige bewegende und teilweise tränenreiche Gespräche folgen. Das Pflegebett im
Wohnzimmer ist ‚selbstverständlich möglich‘ und auch die materiellen Ängste der zurückbleibenden
Partnerin durften angesprochen und bearbeitet werden.
Mir ist dieses Beispiel wichtig, weil es einerseits zeigt, wie wichtig es einerseits ist, Ängste zu
differenzieren und andererseits, wie sehr wir manchmal gefordert sind, einen aktiven Schritt auf die die
Angst hin zu ermutigen.
Angst hat, wie eingangs gesagt, viele Gesichter, die gesehen werden wollen, um angemessen damit
umgehen zu können und um die Angst vor der Angst zu mildern.
Um es abschließend zu sagen: Grundlage des Umgangs mit Ängsten ist die Freiheit, dem Menschen in
Angst mit Respekt zu begegnen. Im Kontakt mit eigenen Ängsten und Freiheit von
Therapieideologien. In diesem Sinn sehe ich das wesentliche Ziel nicht darin, die Angst zu umgehen
und ‚wegzubehandeln’. Vielmehr sehe ich unsere Aufgabe in der Psychoonkologie darin, auf dem
Fundament unseres therapeutischen und wissenschaftlichen Handwerkszeugs die Beziehung vom
Anderen her so zu gestalten, dass er sich besser versteht und selbstfürsorglicher mit sich und seinen
Ängsten umgehen kann.