Geschichte von S...

Meinen Namen werde ich hier nicht nennen. Er tut im Grunde auch nichts zur Sache. Es ist einer von vielen tausend Namen von Menschen, denen allen dasselbe Leid zugefügt wurde.
In der Pubertät eröffneten mir meine Eltern was passiert war. Ich wurde infiziert mit dem Virus - als ich ein kleines Kind war. Es war zu der Zeit als die AIDS-Hysterie ihren Höhenpunkt erreicht hatte. Es vergingen keine drei Tage ohne dass in den Medien das Thema präsent war. Die Zeitungen und das Fernsehen waren voll davon. Bilder vom Vater am Krankenbett seines sterbenden Sohnes, berühmte Menschen, die an der Krankheit gestorben sind. Gesprächsthema Nummer eins auf dem Schulhof, bei der Arbeit, am Stammtisch. Aber bei mir sei alles unter Kontrolle. Das Virus schlummert nur in dir, es muss nicht ausbrechen. Aber niemand darf davon erfahren, es muss geheim gehalten werden...
In den nächsten Jahren lebte ich mit dem Wissen, ließ es aber nie wirklich an mich heran. Ich trieb viel Sport, hatte meine Kumpels, hatte auch eine feste Freundin, die Bescheid wusste und wir uns entsprechend verhielten. Ich machte meinen Schulabschluss. Es ging mir gut. Ich glaubte es würde immer so weitergehen und ich könne mit dem Virus leben.
Bis ich irgendwann erfahren musste mit was ich es wirklich zu tun hatte.
Ab meinem zwanzigsten Lebensjahr ging es mir gesundheitlich zunehmend schlechter. Ich verlor immer mehr Gewicht und die Krankenhausaufenthalte häuften sich. Ich befand mich in einer Abwärtsspirale aus der es kein Entkommen mehr gab. Ein Pilz, der sich in meinem Rachen breit gemacht hatte, sorgte dafür, dass ich nahezu keine Nahrung mehr zu mir nehmen konnte. Eine extrem schmerzhafte Gürtelrose suchte weite Teile meines Körpers heim, so dass ich kaum noch liegen oder mich bewegen konnte.
Das bekam man halbwegs wieder in den Griff. Aber es kam noch viel schlimmer. Mein Gesundheitszustand kollabierte wenige Wochen später. Ich kam mit dem Notarzt direkt in den OP, wo ein Teil meines Darms entfernt wurde, da dieser von Bakterien zerfressen war. Fürchterliche Schmerzen. Ich wog zu dieser Zeit noch 49 Kilo - bei einer Körpergröße von 1,80 Metern. Ich konnte mein Krankenbett nicht mehr verlassen. An weite Teile des dreimonatigen Krankenhausaufenthalts kann ich mich nicht mehr erinnern, da ich im Fieberdelirium lag oder starke Schmerzmittel erhielt. Meine Eltern verstanden nicht was da vor sich ging - oder konnten es nicht verstehen, wollten nicht fassen was da geschah.
Die Krankenschwester sagte Ihnen: „Ihr Sohn ist sehr, sehr krank. Machen Sie sich auf alles gefasst.“
Ich lag zu dieser Zeit im Sterben. Im Vollbild AIDS. Ich war plötzlich der Sohn, dessen Vater am Sterbebett um ihn weint. Sie schickten einen Geistlichen, aber ich schickte ihn weg. Ich selbst wollte das nicht wahrhaben.

Das ist das wahre Gesicht dieser Krankheit. Man ist nicht plötzlich tot. Man stirbt über Monate vor sich hin. Ein Leidensweg auf dem es einem immer schlechter geht. Ein elendes Verrecken auf Raten. Begleitet von Schmerzen und unendlicher Hoffnungslosigkeit. Unbeschreibliches Leid, für die Angehörigen und für einen selbst. Das bedeutet es AIDS zu haben.
Aber ich hatte Glück. Großes Glück, dass in dieser Zeit die ersten wirksamen Medikamente entwickelt wurden, die - teils noch ohne Zulassung - den Menschen gegeben wurden weil man erkannte, dass sie halfen. Und ich hatte Glück, dass mein behandelnder Arzt Wege hatte an dieses Zeug ranzukommen und es mir auch verabreichte. Das war meine Rettung. Nichts anderes. Sonst hätte ich das Krankenhaus im November 1996 nicht lebend verlassen.
Viele andere, mehr als tausend andere, hatten dieses Glück nicht. Ihre Väter und Mütter, Frauen und Kinder haben auch am Sterbebett geweint. Tun es heute noch. Hier wurden Existenzen zerstört und Leben ausgelöscht. Weil die einen Geld sparen wollten und die anderen nicht richtig hingeschaut haben.
Es hat Jahre gedauert bis ich es einigermaßen geschafft hatte meine Krankheit zu akzeptieren. Damals wurde ich mit der ersten Generation der antiretroviralen Medikamente behandelt. Die Therapie bestand aus einer Vielzahl von Tabletten verschiedener Wirkstoffklassen, die mehrfach am Tag in genauen Zeitabständen eingenommen werden mussten und starke Nebenwirkungen hatten. Ich litt unter Nierensteinen, die entfernt werden mussten. Ich musste noch jahrelang Prophylaxen zur Vermeidung von Lungenentzündungen einnehmen und mich regelmäßig beim Augenarzt vorstellen. Aber es ging mir gesundheitlich deutlich besser.
Erst Jahre später wurden mir die weiteren niederschmetternden Diagnosen mitgeteilt: HCV und HBC positiv. Ich konnte es nicht fassen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte mir oder meinen Eltern niemand gesagt, dass ich mit weiteren lebensbedrohlichen Viren infiziert wurde. Wahrscheinlich dachten sie, dass das bei mir sowie keine Rolle spielen würde, da ich an AIDS sterbe bevor die Komplikation einer Leberzirrhose oder eines Lebertumors auftritt.
Ich glaube nicht, dass Außenstehende begreifen können welch unendliches Leid hier geschehen ist. Angetan wurde. Leid, das hätte vermieden werden können. Ebenso bezweifele ich, dass Außenstehende nachvollziehen können wie sehr diese Krankheit sowie ihre ganzen Rahmenbedingen und Begleiterscheinungen das Leben eines Menschen und das seiner Angehörigen prägen. Welche tiefe Unsicherheit das Durchleben dieser Krankheit auslöst, wie sie den sozialen Umgang mit anderen Menschen beeinflusst, wie sie sich auf die Persönlichkeit, das Selbstwertgefühl und den Lebensweg eines Betroffenen auswirkt. Während einer sehr depressiven Phase sagte ein Psychotherapeut zu mir: „Sie haben die Selbstverständlichkeit am Leben verloren. Und es ist sehr schwierig diese wieder zu finden.“ Ich habe sie bis heute nicht wiedergefunden, diese spezielle Unbeschwertheit und Gelassenheit. Der lebenslange Umgang mit der Krankheit, die jeden Tag mit der Einnahme von Medikamenten aufs Neue präsent wird, stellt mein Leben immer wieder in Frage. Wie ein dunkler Fleck, der immer bleiben wird.
Als Mittzwanziger mussten bei mir die Weisheitszähne entfernt werden. Also lag ich irgendwann auf dem OP Tisch der Kieferchirurgie des Uniklinikums und wartete auf den operierenden Arzt. Der kam aber nicht. Er hatte Angst mich zu behandeln und sich dabei zu infizieren. Mir wurde dann später nahegelegt doch eine andere Klinik aufzusuchen. Erfahrungen wie diese haben mich gelehrt sehr zurückhaltend darin zu sein anderen mitzuteilen was mit mir los ist. Denn die meisten Menschen wollen damit nichts zu tun haben, wollen oder können auch nicht mit „AIDS-Kranken“ umgehen, verdrängen solche Dinge lieber. Ich kann es ihnen nicht verübeln, mir würde es wohl genauso gehen. Das passt einfach nicht rein ins Lebensbild der heutigen Zeit. Gerade so eine Krankheit nicht. Krebs würde ja noch gehen, aber AIDS. AIDS ist ja kein Schicksal, denn um das „erworbene Immunschwächesyndrom“ zu bekommen muss man aktiv was machen, daran ist man „selbst schuld“ - so was in der Art schwingt unbewusst immer mit.
Ein naher Verwandter, dem ich sehr spät von meiner Krankheit erzählte, meinte: „Du bist genauso wie wir alle. Deine Krankheit unterscheidet dich nicht von anderen.“ Das habe ich lange versucht mir selbst vorzumachen. Aber es ist nicht so. Diese Krankheit an sich, die Art wie ich sie „erworben“ habe, der Umgang damit, die Auswirkung auf mein Denken, Fühlen und Handeln und das meiner Familie, die Perspektiven hinsichtlich Beruf, Familie und Privatleben, meine existenzielle Sicherheit und die der mir Nahestehenden, dies alles unterscheidet mich ganz gravierend von den meisten „Anderen“. Leider.
Und heute? Vor einigen Wochen war mein 41. Geburtstag. Ich frage mich oft wie mein Leben ohne die Infektionen verlaufen wäre. Es gab Phasen in den vergangenen zwanzig Jahren, da hatte ich mir gewünscht es wäre damals mit mir zu Ende gegangen. Diese Phasen absoluter Hoffnungslosigkeit hatte ich im Besonderen Ende der 90er Jahre als die ersten Prognosen davon ausgingen, dass die neuen Therapien eine lebensverlängernde Wirkung von einigen Jahren hätten. Ich hatte AIDS erlebt, überlebt, und sollte an dieser Krankheit dann doch noch zu Grunde gehen - nur halt etwas später. Aber es kam anders. Die Prognosen wurden im Laufe der Jahre immer wieder nach oben korrigiert. Gleichzeitig gab es aber auch zahlreiche Therapiewechsel was zu Multiresistenzen führte, so dass für mich nicht mehr alle Therapieoptionen offen stehen. Völlig unklar ist ebenfalls wie sich die jahrzehntelange Medikamentengabe auf die Gesundheit auswirken wird. Ich gehe davon aus, dass die Infektionen mir eines Tages das Leben kosten werden - wenn auch indirekt durch Nebenwirkungen der Medikamente, durch das Zusammenspiel der unterschiedlichen Infektionen oder durch das Auftreten einer anderen Krankheit, deren Verlauf von den Infektionen negativ beeinflusst wird. Irgendwie so wird es wohl kommen. Und ich glaube nicht, dass das noch 40 Jahre dauern wird. Letztendlich bin ich immer noch todkrank. Mein Leben wird durch Medikamente verlängert. Setze ich sie ab oder werden sie unwirksam, werde ich sterben.

Dabei bin ich noch einer von denen, die Glück hatten. Hätte sich der gesundheitliche Kollaps ein Jahr früher ereignet oder würde ich nicht in einem reichen Industrieland leben, wäre es anders gelaufen. Ich habe diese zusätzlichen Jahre bekommen. Das ist mir auch bewusst. Ich bin einer der wenigen Überlebenden. Dennoch kann es manchmal schwer sein das so zu sehen und auch Freude an all dem Glück zu empfinden.